Fassade eines leerstehende Gebäudetrakts

Das Sanatorium im Harz, in dem die Fotos entstanden sind.

Foto: Bahlmann

Lotse

Fasziniert von der Stimmung verlassener Orte

29. Februar 2024 // 12:00

Geruch von Moder und Fäulnis tränkt die langen Gänge. Von den Wänden platzt Putz. Durch riesige Fenster mit antiken Rundbögen tanzen Sonnenstrahlen in die großzügigen Räume, entlarven den Staub, den die Besucher an diesem ansonsten längst verlassenen Ort gerade aufwirbeln.

Geruch von Moder und Fäulnis tränkt die langen Gänge. Von den Wänden platzt Putz. Durch riesige Fenster mit antiken Rundbögen tanzen Sonnenstrahlen in die großzügigen Räume, entlarven den Staub, den die Besucher an diesem ansonsten längst verlassenen Ort gerade aufwirbeln.Voller Leidenschaft tauchen die drei Bremerhavener ein in eine Welt, die aus der Zeit gefallen scheint. Sie sind Suchende: nach außergewöhnlichen Foto-Szenarien, nach mystischen Gefühlen. Stets der Liebe frönend, die der Verfall dieser „Lost Places“ in ihnen auslöst.

Leerer Raum mit Dunst

Staub wird in den großen Räumen von den Besuchern auf-gewirbelt und lässt eine mystische Stimmung entstehen.

Foto: Bahlmann

Adrenalin pur

Da kommt kein gewöhnlicher Rausch mit: „Es ist der Kick des Überraschenden. Nie zu wissen, was einen ein paar Meter weiter erwartet. Das ist Adrenalin pur“, beschreibt Thomas Raasch die spezielle Faszination der „Lost Places“. Orte also, die von der Menschheit vergessen worden zu sein scheinen. Die, die dereinst Bühne des Lebens waren. Und jetzt den Weg allen Irdischen nehmen, indem sie zu Staub und Stein zerfallen. Jedem, der sie besucht, die eigene Vergänglichkeit um die Ohren hauen und wortwörtlich unter die Nase reiben. Sanatorien, Herrschafts- und Bauernhäuser, Wohn- und Arbeitsstätten. „Wir sind sogar schon einmal auf eine verlassene Arztpraxis gestoßen, in der es so aussah, als seien alle nur mal eben in die Mittagspause gegangen. Akten, Instrumente, alles war da. Nur halt im Zerfall begriffen“, erzählt Janka Bahlmann.

Außergewöhnliches Hobby

Jedes ihrer Worte trägt die Faszination für das außergewöhnliche Hobby. Spricht Bände für das Motiv, sich, wie heute geschehen, zu nachtschlafender Zeit auf den Weg von Bremerhaven in den Harz zu machen. Entschädigung bietet ein wunderschönes Naturschauspiel, bei dem der untergehende Mond auf der Rechten ganz langsam die Staffel an die auf der Linken aufgehende Sonne zu übergeben scheint. Vorbei geht es an noch mit Schnee bedeckten Hügeln, Wasserfällen, Steinwänden und durch eine teilweise in Nebel versunkene Landschaft. Bis inmitten des schon fast surreal wirkenden Geschehens eine Gruppe von alten, großen Gebäuden erscheint.

Einmalige Einblicke in einen Lost Place.

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Verlassenes Sanatorium

Wo genau sich das verlassene Sanatorium befindet, ist streng geheim. So will es der Urbexer-Ehrenkodex. Urbex ist eine Wortschöpfung, eine Allianz aus den Begriffen Urban und Exploration. Gemeint ist das Erkunden und fotografische Dokumentieren verlassener Orte. „Das Schweigen über den Standort gilt dem Schutz dieser Plätze. Damit das, was ist, noch möglichst lange erhalten bleibt und nicht von Heerscharen von angelockten Besuchern zerstört wird.“ So will es die weltweite Urbexer-Gemeinschaft, zu der auch Janka Bahlmann und ihre zwei Begleiter zählen.

Raasch nimmt vorsichtig auf einem alten rostbraunen Chesterfield-Sessel Platz. Das Leder ist brüchig, die abgenutzten Sitzflächen zeugen davon, dass es lange in Gebrauch gewesen sein muss. Auf der Lehne liegt der Rest einer zerfledderten Zeitung.

Es beginnt mit einer Idee

„Das war bestimmt ein Wohnhaus für die Ärzte“, denkt Janka Bahlmann laut vor sich hin. Ihre Blicke durchforschen den hellgelb gestrichenen Raum, bleiben an dem Schatten des Loches der Fensterscheibe an der Wand hängen. „Hier fangen wir an“, schlägt sie vor. Längst habe sie eine Idee im Kopf, erzählt die Foto-Künstlerin, während Jessica Titz den lichtdurchfluteten und dennoch irgendwie finsteren Raum mit Tönen von Ghosts „Stay with me“ anfüllt. „Musik erzeugt bestimmte Foto-Szenarien in mir, die ich an den Lost Places umsetze“, sagt Janka Bahlmann. Traurige Klänge erweckten die besten Inspirationen in ihr, erzählt die 32-Jährige, und es hört sich so an, als wundere sie sich selbst ein wenig darüber.

Raasch zieht sich um, verschmilzt mit dem mystischen Umfeld und wird zum Turbo-Booster für die Fantasie. Ist er der Hausherr, der hier mitsamt der uralten Zeitung einfach vergessen wurde? Ein lebendiger Rest inmitten des Verfalls? Oder ist er womöglich ein Abgesandter des Jenseits?

Mann mit Zylinder und Laterne steigt eine Treppe hoch

Thomas Raasch verschmilzt mit dem mystischen Umfeld.

Foto: Bahlmann

Zauber des Verfalls

Jessica Titz taucht Raasch, der vornehm in dem Chesterfield-Sessel sehr melancholisch in vermeintlich ferne Welten schaut, in die weißen Schwaden einer Nebelkerze. Wenig später verschwindet die 43-Jährige, lediglich in ein Tuch gehüllt, selbst im Nebel. Dicke rote Wolken scheinen die blonde Frau zu verschlingen. Rein olfaktorisch machen sie dem Modergeruch Konkurrenz, reizen die Atemwege. Aber das stört die drei Urbexer scheinbar wenig. Wer dem Zauber des Verfalls verfällt, widersteht sowohl Hustenanfällen als auch frostbedingten Triefnasen, wie es scheint. Geflutet von Endorphinen und einem großen Fundus exklusiver Fotos, lassen sie diesen Ort schließlich wieder als das zurück, was er ist: lost.

Frau steht in leerem Raum im Nebel

Das verlassene Sanatorium.

Foto: Bahlmann