Zwischen Abenteuerland und Alptraum
Es ist kein langer Abend. Nach anderthalb Stunden geht in der Barclays Arena das Licht an. Und das ist vielleicht auch gut so. Denn die Schwelle zur Reizüberflutung ist fast schon überschritten.
Das Publikum, das anfangs in einer Mischung aus Verstörung und Überforderung noch eher zaghaft applaudiert, erhebt sich am Ende von den Stühlen, um einer Künstlerin seinen Tribut zu zollen, die mit nichts und niemandem zu vergleichen ist: Björk.
Anders war die isländische Sängerin, die am Dienstag im Rahmen ihrer „Cornucopia“-Tour in Hamburg eines von insgesamt zwei Deutschland-Konzerten gibt, schon immer. Ganz am Anfang, da hat sie noch so etwas wie Pop gemacht. Nennen wir es mal Indie-Pop; das ist ein ausreichend dehnbarer Begriff. Schon damals schwang aber immer eine kräftige Priese Avantgardistisches mit.
Fern ab von herkömmlichen Songstrukturen
Heute ist Björk nur noch Avantgarde. Von herkömmlichen Songstrukturen hat sie sich längst verabschiedet. Ihre letzten Platten waren anstrengend, mithin nur schwer hörbar. Und leicht macht es Björk auch dem Hamburger Publikum nicht.
Auf der Bühne kommen diverse Schlaginstrumente, eine Harfe, viel Elektronik, dann und wann eine Posaune sowie sechs Flötisten zum Einsatz. Letztere scheinen in ihrer elfenhaften Kostümierung geradewegs dem „Sommernachtstraum“ entsprungen zu sein.
Und über allem schwebt und thront die akrobatische Stimme von Björk, die sich zum Singen mitunter in eine Art schneeweißen Dom auf der rechten Seite der Bühne zurückzieht. Der könnte ein Iglu sein, vielleicht aber auch, weil er Öffnungen hat, die wie Mund und Augen aussehen, der Kopf eines weißen Riesen. Björk allein wird es wissen.
Und da steht sie dann, gerade eben noch auszumachen durch das Auge des Riesen, und singt einen Titel ohne jede Begleitung. Kühn ist das. Und fern ab von leicht verdaulich. Aber eben auch ziemlich grandios.
Björk zelebriert den visuellen Overkill
Die Wirkung würde vielleicht nicht mal verpuffen, wenn die visuellen Effekte nicht wären. Grundsätzlich sind sie aber ein ganz essenzieller Bestandteil der Show. Auf der Leinwand und dem transparenten Vorhang davor ist eine permanente Metamorphose zu sehen. Ständig wächst etwas, fällt im nächsten Moment in sich zusammen, um zu etwas Neuem zu erblühen, Tentakeln auszubilden, Haare, grapschende Hände oder Wülste. „Alice im Wunderland“ ist gegen den visuellen Overkill, den Björk auf der Bühne zelebriert, ein Musterbeispiel an Fantasielosigkeit. „Who the f… is Alice?“, ist man ständig versucht zu fragen.
Fabelwesen irrlichtern über die Leinwand
Björks Welt ist eine Mischung aus Abenteuerland und Alptraum. Fabelwesen irrlichtern mit leuchtenden Augen über die riesige Leinwand, weichen im nächsten Moment gehörnten Monstern, die die Apokalypse auszurufen scheinen. Bei einem Stück fliegt ein orangefarbener Uhu auf das Publikum zu, nimmt bald die gesamte Bühnenbreite ein, trudelt dann wieder zurück und beginnt, immer schneller um die eigene Achse zu rotieren. Das ist im Zusammenspiel mit der zwischen Feenstaub und Kakophonie changierenden Musik ebenso verstörend wie großartig.
Ständchen zum 58. Geburtstag
Nach einer Stunde und zehn Minuten spricht Björk zum ersten Mal. Sie sagt „Dankeschön“. Dann überlässt sie für einen kurzen Moment der Klimaaktivistin Greta Thunberg die Bühne, die sich mit einer Videobotschaft ans Publikum wendet.
Nach drei weiteren Titeln sagt Björk erneut, es ist das dritte Mal, „Dankeschön“ und stellt dann ihre Musiker vor. Die stimmen „Happy Birthday“ an und gratulieren Björk damit zum 58. Geburtstag, den sie an diesem Tag in Hamburg feiert. Die Fabelfrau aus dem Land nach unserer Zeit schlägt beschämt die Hände vors Gesicht angesichts des überraschenden Ständchens.
Sängerin inszeniert sich als Gesamtkunstwerk
Vielleicht ist das der einzige Moment in dieser an Opulenz, Raffinesse und Wahnsinn schwer zu überbietenden Performance, der nicht bis ins letzte Detail inszeniert ist. Vielleicht aber auch nicht. Die Geste wirkt jedenfalls sympathisch, irgendwie menschlich. Ein bisschen, gut zu wissen, ist Björk, dieses in ein unerhörtes Fantasiekostüm gewandete Gesamtkunstwert, eben doch auch von dieser Welt.