„Definiere mich nicht ostdeutsch“
„Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“ läuft am Montag (25. 9.) um 20.15 Uhr in der ARD. In dem Film beleuchtet Wellmer 33 Jahre nach der Wiedervereinigung die Gefühlslage der Menschen in den neuen Bundesländern. Sie selbst ist ein Kind der DDR. Jessy Wellmer kam 1979 in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern als Tochter eines Lehrer-Ehepaares zur Welt und studierte vor ihrer journalistischen Laufbahn Kommunikation. Sie war zunächst mehrere Jahre Sportjournalistin beim ZDF, bevor sie als Moderatorin der „Sportschau“ im Ersten ab 2017 einem größeren Publikum bekannt wurde. Seitdem berichtete sie unter anderem von Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen oder zuletzt von der Fußball-WM in Katar. Demnächst wechselt die Journalistin als Nachfolgerin von Caren Miosga zu den „Tagesthemen“ und gibt den Job als Sport-Moderatorin dafür auf. Wellmer ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Frau Wellmer, Ihre neue Reportage heißt „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“. Würden Sie selber sich als Ostdeutsche bezeichnen?
Ich bin in der DDR geboren, ich habe den Umbruch nach 1989 als Kind und Jugendliche miterlebt, aber ich definiere mich nicht primär als Ostdeutsche. In meinem Alltag als Moderatorin, Mutter und Ehefrau ist das keine Kategorie für mich. Ich bin in Mecklenburg zur Schule gegangen, habe ein Austauschjahr in Neuseeland gemacht, ich habe in West-Berlin studiert, war im Kibbuz in Israel. Ich pendle nach Köln und Hamburg zur Arbeit und bin für die Sportschau durch die ganze Welt gereist. Ich werde aber zur Ostdeutschen, wenn ich mit Vorurteilen konfrontiert werde über die DDR und den Osten - dann erwacht der Ost-Stolz in mir.
Welche Vorurteile gehen Ihnen am stärksten gegen den Strich?
Das große Klischee des Jammer-Ossis ist noch weit verbreitet, die großen Unterschiede innerhalb des Ostens werden oft nicht zur Kenntnis genommen. Am Ende gelten die Ostdeutschen als unzufriedene Wähler rechtsextremer Parteien. Solche Klischees entstehen aus Desinteresse, und die daraus resultierende große Unwissenheit ist etwas, was viele im Osten schmerzt.
Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss. Ist es vor allem ein Riss zwischen Ost und West?
Die großen Streitthemen gibt es in Ost und West. Ich glaube aber, dass die aktuellen Konflikte den alten Graben zwischen Ost und West wieder vertieft haben. Wir waren schon mal weiter in den Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung. Aber mit den großen gesellschaftlichen Krisen, der Flüchtlingskrise, der Pandemie, jetzt dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist bei manchen Ostdeutschen das Gefühl wieder stärker geworden, „der Westen“ entscheidet über unsere Köpfe hinweg. Das Gefühl der Fremdheit hat wieder zugenommen. In einer Umfrage für unsere Reportage haben wir gefragt, wie sehr Ost und West seit 1989 zusammengewachsen sind, und die große Mehrheit hat gesagt: Gar nicht oder wenig. Das erschreckt mich.
Wie wurden Sie bei Ihrer Reise durch den Osten empfangen, als Fernsehfrau aus dem Westen oder als eine von dort?
Die Vorurteile gegenüber Journalisten und Journalistinnen, gerade von öffentlich-rechtlichen Medien, sind im Osten oft groß. Ich begegne aber vielen in meiner Rolle als Sportschau-Moderatorin, und das ist eine Eintrittskarte. Ich bin eine Frau, die Sport und Fußball behandelt, und deshalb lassen sich viele auf ein Gespräch ein. Dass ich auch aus dem Osten komme, hilft sicher auch.

© Brandt/dpa
So kennt man Wellmer: Die 43-Jährige, hier mit Ex-Fußballer Bastian Schweinsteiger, ist als Sportmoderatorin im Ersten tätig, wird aber voraussichtlich zu den „Tagesthemen“ wechseln.
Worüber haben Sie mit den Menschen gesprochen?
Sie wollten einfach ihre Lebensgeschichte erzählen: Wie ging es uns in der DDR, wie ging es uns nach dem Mauerfall, wie geht es uns heute? Weil sie sich vom Westen nie so richtig ernst genommen fühlten und glauben, dass ihr Leben nicht anerkannt wird, weil sie es in der DDR gelebt haben und weil sie die Verunsicherungen der Umbruchszeit in den Knochen haben. Und jetzt steht da die Fernsehtante und hört sich das an, das haben viele dankend angenommen. Das passiert offenbar zu selten, und ich denke: Zuhören ist ein erster Schritt.
Haben Sie die Leute auch auf den großen Zuspruch für die AfD im Osten angesprochen?
Dieses Vorurteil, dass man sofort Nazis und AfD-Wählern begegnet, wenn man in den Osten fährt, das stimmt ja so nicht. Die gibt es da, und es ist ein Problem, das man nicht ignorieren darf. Aber die sind nicht überall. Wenn ich die Leute gefragt habe, wo sie bei der nächsten Wahl ihr Kreuz machen würden, haben viele gesagt: „Auf keinen Fall bei der AfD.“ Wir haben eine Band in Chemnitz besucht, die Stadt hat ein Riesenproblem mit Rechtsextremen, und diese jungen Musiker haben uns gesagt: Genau deshalb müssen wir hierbleiben und nicht nach Köln, Berlin oder München gehen, um dort Musik zu machen. Es gibt auch im Osten eine starke Zivilgesellschaft und viele Leute, die AfD und Rechtsextreme bekämpfen, das sollte nicht unter den Tisch fallen.
Vorbehaltlich der Zustimmung der ARD-Gremien werden Sie demnächst als Nachfolgerin von Caren Miosga neue „Tagesthemen“-Moderatorin. Werden Sie ostdeutschen Themen mehr Raum geben?
Ja. Ich möchte den Job nicht haben, weil ich damit eine Ost-Quote erfülle, sondern weil ich glaube, dass ich eine eigene Perspektive mitbringe. Es ist ja nicht so, dass ostdeutsche Themen keinen Raum hätten. Es kommt halt darauf an, wie man draufguckt. Ich möchte dazu beitragen, dass sich Osten und Westen besser verstehen. Ich würde gerne beiden Seiten etwas übereinander vermitteln. Und ich freue mich ja auch, wenn ich für meine Filme in meiner ostdeutschen Heimat unterwegs bin und spüre, dass sich Menschen von mir repräsentiert fühlen. Ich hoffe, dass die Leute auch dann, wenn ich den Job wechsle und im Bereich Politik unterwegs bin, immer noch sagen: „Jessy Wellmer ist eine von uns“ - denn das bin ich auch.
Welche Erinnerungen haben Sie eigentlich persönlich noch an die DDR? Sie waren in der vierten Klasse, als 1989 die Mauer fiel…
Ich kann mich ans DDR-Kinderfernsehen erinnern und an die Zeit als Jungpionierin mit blauem Halstuch, an die Grundschule und die Fahnenappelle, bei denen die DDR-Fahne gehisst wurde. Das sind alles Erinnerungen, die natürlich alle total unschuldig sind. Jetzt wünsche ich mir, ich könnte zurückreisen in das Land meiner Eltern, um mir ein eigenes Bild zu machen, aber es gibt dieses Land einfach nicht mehr.
Wann wird es egal sein, aus welchem Teil Deutschlands man ist?
Vielleicht in der nächsten Generation. Und ich würde mir auch wünschen, dass junge Leute nicht den Frust ihrer Eltern aus 30 Jahren übernehmen, sondern ihr eigenes Leben führen. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, gibt es aber bei vielen Ostdeutschen immer noch. Das liegt auch, aber nicht nur, an wirtschaftlichen Fragen. 43 Prozent fühlen sich einer Umfrage zufolge als Bürger zweiter Klasse. Das zeigt, dass dieses Ost-West-Ding immer noch ein großes Thema ist. Zumindest für die Ostdeutschen. Mit meinen Reportagen will ich versuchen zu vermitteln. (bal)