„Frauen fühlen sich nicht sicher“
In dem ARD-Drama „Bis zur Wahrheit“ (20.11., 20.15 Uhr, ARD) spielt die 58-Jährige eine erfolgreiche Ärztin, die vom Sohn ihrer besten Freundin vergewaltigt wird und die Tat zunächst verschweigt – als die Wahrheit ans Licht kommt, muss sie sich ihrem Trauma und skeptischen Reaktionen in ihrem Umfeld stellen.
Frau Furtwängler, in Ihrem neuen Film spielen Sie eine Frau, die vom Sohn ihrer besten Freundin vergewaltigt wird. Mit welchen Gefühlen sind Sie in die Dreharbeiten gegangen?
Es war für mich ein sehr besonderes Projekt, weil ich die Idee dazu hatte und den Film selbst produziert habe. Mit liegt das Thema sehr am Herzen, und es war mir wichtig, gewohnte Erzählmuster zu durchbrechen, wie sie in Filmen über sexualisierte Gewalt leider oft an der Tagesordnung sind. Die Protagonistin ist nicht die junge, unschuldige Frau, die im Machtgefälle unterhalb des Mannes steht, und der Täter ist nicht der oft erzählte fremde Mann, der aus dem Gebüsch springt. Man weiß ja, dass solche Taten in vielen Fällen in den eigenen vier Wänden stattfinden und der Schuldige aus dem sozialen Umfeld kommt.
Eine Studie Ihrer MaLisa-Stiftung hat ergeben, dass in einem Drittel aller Fernsehformate explizite geschlechtsspezifische Gewalt dargestellt wird, häufig schwere Gewalt gegen Frauen…
Ich finde das schockierend. In vielen Krimis und Reality-Crime-Formaten, und das war auch schon in „Tatorten“ so, die ich gedreht habe, sieht man am Anfang eine junge, attraktive und möglichst auch noch nackte Frauenleiche. Dann geht es mit den Ermittlungen los, und am Ende hat man womöglich noch Verständnis für die Verzweiflung des Täters, weil der ein schreckliches Elternhaus hatte. Es wird einfach viel zu selten die Perspektive des Opfers eingenommen. Ich bin sehr froh, dass wir mit unserem Film einen neuen Blickwinkel beisteuern können, der in Anbetracht der Häufigkeit der Erzählung einfach unterrepräsentiert ist.
Wie spielt man ein Vergewaltigungsopfer?
Martina ist nicht das typische Opfer, und ich will sie nicht als Opfer zeigen, das nach der Tat nur noch verschreckt und sich schrubbend unter der Dusche steht und sich nicht mehr anfassen lässt. Sie hat eine aktive Sexualität, und die will sie sich zurückerobern.
Das wird unter anderem mit einer Selbstbefriedigungs-Szene illustriert. Wie viel Mut hat Sie das gekostet?
Ich habe mir natürlich überlegt, ob ich das will und wie ich das mache. Um so etwas zu drehen, braucht man ein sehr großes Vertrauen zu den Beteiligten. Ich war in der entscheidenden Szene nur mit der Regisseurin und dem Kameramann im Raum. Das ist ja das Absurde bei der Schauspielerei, dass man Emotionen und Handlungen, die man im normalen Alltag verbirgt, nach außen kehren muss.
Anders als früher regeln bei Filmen heute Intimitäts-Koordinatoren Szenen, in denen es um Nacktheit oder Gewalt geht…
Ich bin sehr froh, dass es das heutzutage gibt. Auch für die Männer sind solche Szenen übrigens gar nicht so ohne. Das gilt auch für Pasquale Aleardi, der in dem Film meinen Ehemann spielt und mit dem ich eine sehr intime Szene hatte. Es ist so angenehm, wenn man alles vorher ganz genau bespricht und sagen kann: Hier kann ich angefasst werden und hier nicht. Die Private Parts, wie das im Englischen so schön heißt, werden geschützt und abgeklebt, so dass man sich frei bewegen kann, ohne Angst, da könnte was schiefgehen. Übrigens ist auch die Hygiene ein wichtiger Punkt. Heutzutage wird ganz klar gesagt: So, hier hast du eine Zahnbürste und hier ist die antibakterielle Mundspülung, damit gurgelst du jetzt.

Muss als Chirurgin trotz der verstörenden Ereignisse funktionieren: Martina (Maria Furtwängler).
Und früher war das anders?
Ich habe bei Dreharbeiten früher unangenehmste Sachen erlebt, nicht zuletzt in Sachen Mundhygiene. Ich erinnere mich an einen deutlich älteren Mann, mit dem ich im Film verheiratet war, der hat Kette geraucht und den musste ich dann küssen. Niemand hat vorher zu ihm gesagt: Du, die Zunge bleibt aber drin. Es war einfach grauenvoll. Früher hat man sich als Schauspielerin nicht getraut, sich zu wehren, und auch bei Bettszenen wurde nicht aufgepasst. Das hat sich schon sehr geändert.
Was fällt Ihnen selber auf, wenn Sie vor dem Fernseher sitzen?
Dass es Krimis gibt, Krimis und nochmal Krimis. Natürlich profitiere ich in meiner Eigenschaft als „Tatort“-Schauspielerin auch davon, keine Frage. Aber es ist schon verrückt, wie wir Deutschen den Krimi in allen Varianten lieben. Landschaftskrimi, Schmunzelkrimis, skandinavische Krimis. Deshalb bin ich auch froh, dass wir mal so ein intensives Fernsehspiel erzählen durften, das gibt es ja kaum mehr.
Hätten Sie sich den Film auch mit einem männlichen Regisseur vorstellen können?
Ich will das nicht ausschließen. Und ich bin glücklich, dass ich mit Saralisa Volm eine Regisseurin gewinnen konnte, die sich in ihrem Sachbuch „Das ewige Ungenügend“ mit eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt hat. Ich denke, den weiblichen Blick sieht man unserem Film an.
Hatten Sie in Ihrer Eigenschaft als Ärztin schon mit Vergewaltigungsopfern zu tun?
Ja, zum Beispiel bei meinem Einsatz als Ärztin für German Doctors in Indien. Dabei habe ich erlebt, wie schambesetzt das Thema Vergewaltigung ist. Deshalb finde ich den einen Satz so extrem wichtig, der jetzt in Zusammenhang mit dem schrecklichen Prozess von Avignon oft zu hören ist: Die Scham muss die Seite wechseln.
Die Französin Gisele Pelicot wurde mutmaßlich von ihrem Mann nicht nur jahrelang betäubt und vergewaltigt, sondern auch anderen Männern in einem Internetforum zum Missbrauch angeboten. Und sie hat Wert darauf gelegt, dass der Prozess öffentlich stattfindet.
Die Botschaft ist: Frauen müssen aufhören sich zu schämen – die Männer müssen die Verantwortung und die Scham übernehmen. Wenn wir mit dem Film einen kleinen Beitrag dazu leisten könnten, dass die Scham die Seite wechselt, wäre das großartig.
Inwiefern fühlen Sie sich als Frau immer sicher im Alltag?
Ich glaube, keine Frau fühlt sich immer sicher. Wir alle kennen das mulmige Gefühl, wenn wir abends irgendwo unterwegs sind und plötzlich Schritte eines Mannes hinter uns hören. Dass wir die Seite wechseln, dass in Parkhäusern die Angst oft mit dabei ist. Und deshalb ärgere ich mich so, wenn Männer jetzt sagen: Durch die ganze MeToo-Geschichte traue ich mich nicht mal mehr, mit einer Frau alleine im Aufzug zu fahren, nicht dass sie hinterher sagt, ich hätte sie belästigt.
Das hat ein bekannter deutscher Moderator neulich in einem Interview gesagt…
Wir Frauen gehen unser ganzes Leben mit dem Gefühl um, dass uns etwas zustoßen könnte. Da ist es doch nicht zu viel verlangt, wenn so ein Kerl dann eben den nächsten Aufzug nimmt. Und wir Frauen dürfen nicht sagen: „Du hast recht, die ganze Diskussion ist total übertrieben.“ Nein, es ist total okay, dass jetzt auch mal die Männer verunsichert sind und nicht immer nur wir Frauen.

© Felix Hörhager
Die Schauspielerin Maria Furtwängler.
Zur Person
Maria Furtwängler kam 1966 in München als Tochter der Schauspielerin Katharina Ackermann und des Architekten Bernhard Furtwängler zur Welt, der legendäre Dirigent Wilhelm Furtwängler ist ihr Großonkel. Maria Furtwängler studierte Medizin, promovierte und arbeitete zunächst als Ärztin, ehe sie sich 2001 für den Schauspielberuf entschied. Seit 2002 verkörpert sie die „Tatort“-Kommissar Charlotte Lindholm aus Niedersachen. 1991 heiratete Furtwängler den Verleger und Milliardär Hubert Burda, die beiden haben zwei Kinder. 2022 gab das Paar seine Trennung bekannt. Maria Furtwängler betreibt mit ihrer Tochter Elisabeth die „MaLisa“-Stiftung für Vielfalt, Klima- und Artenschutz, die Schauspielerin lebt in München.