
© Arnd Hartmann
Prozessauftakt am Landgericht Bremen: Der Angeklagte Berkan S. (Mitte) bertritt mit seinem Verteidiger Manar Taleb (links außen) und dem Pflichtverteidiger Thomas Domanski (rechts) den Gerichtssaal.
Es ist der 19. Mai 2022, als Berkan S. mit einer Armbrust und einer Schreckschusspistole bewaffnet das Lloyd Gymnasium in Bremerhaven betritt. Er schießt, eine Person wird schwer verletzt. Zum Prozessauftakt gibt es emotionale Aussagen.
Mit einer persönlichen Erklärung des Angeklagten ist am Landgericht Bremen der Prozess gegen den 21-jährigen Bremerhavener eröffnet worden, der am 19. Mai mit einer Armbrust bewaffnet im Lloyd Gymnasium Angst und Schrecken verbreitet hatte.
Er habe niemanden verletzen wollen, sagte Berkan S., und er entschuldigte sich mehrfach bei der Schulsekretärin, die er mit zwei Bolzenschüssen schwer verletzt hatte. Er entschuldigte sich auch bei den Schülern, Lehrern und allen anderen, die in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Lehrerin sagt unter Tränen aus
Die Lehrerin, die er vor der Tat zur Rede stellen wollte, weil er sie für sein schulisches Scheitern verantwortlich machte, machte sich lange selbst schwere Vorwürfe. „Ich habe mir das Gehirn zermartert, warum er das gemacht hat“, sagte sie am Mittag bei Gericht aus. Aber sie habe nichts gefunden.
Der Tattag muss für sie der Horror gewesen sein. Sie erfuhr, dass der Angeklagte nach ihr im Sekretariat gefragt hatte. Und Polizisten fragten sie, ob es jemanden gebe, der es auf sie abgesehen hatte. „Ich war fassungslos“, sagte sie.
Unter Tränen erzählt sie, das sie an die verwundete Sekretärin dachte, und daran, wie sie hilflos im Sekretariat liegt. Die Lehrerin ging davon aus, dass der Angeklagte sie umgebracht hätte, wenn er sie an dem Tag angetroffen hätte. Aber sie war in ihrer Klasse.
Zuvor hatte der Angeklagte versucht, seine Tat zu erklären, bei der er nicht nur die Sekretärin angeschossen, sondern auch noch vor einem Friseurgeschäft auf einen anderen Mann geschossen hatte.
Er habe mit seinem Angriff von Polizisten getötet werden wollen. „Suicide by Cop“ nennt er das.
Angeklagter: Ich wurde schon als Kind gemobbt
Die Selbsttötungsgedanken schilderte Berkan S. als Folge einer immer ausgeprägteren Depression und Sozialphobie. Bereits als Kind habe er gestottert und sei auch gemobbt worden. Mit dem Fußballspielen habe er verletzungsbedingt aufhören müssen. Er habe sich dann noch mehr in die Welt der Computerspiele geflüchtet.
Als er die Zulassung zum Abitur nicht bekommen habe, „bin ich in ein tiefes Loch gefallen“, sagte er. Es folgte dann die Trennung der Eltern, was seine Lage weiter verschlechtert habe. Seitdem habe er sich mit Selbsttötungsgedanken beschäftigt.
Auf entsprechenden Internetforen sei er auf die Methode „Suicide by Cop“ gestoßen. Auf Ebay beschaffte er sich die Armbrust und weitere Waffen sowie die „Kampfklamotten“.
Der Attentäter behauptet: Ich wollte niemanden verletzen
Er habe niemanden verletzen wollen, sondern seine ehemalige Lehrerin, die er für sein schulisches Scheitern verantwortlich machte, aus einer Position der Stärke zur Rede stellen wollen. Aber es sei alles anders gekommen.
Nachdem mehrere Lehrer im Schulverwaltungsgebäude ihm nicht gesagt hätte, wo sich die Kollegin befindet, habe er sich an die Sekretärin gewandt: „Sie können sich doch auch noch an mich erinnern. Sie waren doch auch frech zu mir."
Er habe die Armbrust erhoben und wollte ihr in die Beine schießen. Wegen seiner zitternden Hände und seiner Kurzsichtigkeit habe er sie am Körper getroffen. Als das Opfer den Pfeil herausgezogen habe und sich abwandte, habe er sich wieder nicht ernst genommen gefühlt und gab einen weiteren Schuss ab.
„Ich bin kein Amokläufer“, wiederholte er mehrfach und verwies auf die vielen Personen, die ihm begegnet seien und denen er nichts getan habe. Um die Aufmerksamkeit der Polizei zu erregen, habe er seinen Plan geändert und die Schule verlassen.
Mann auf der Straße wegen Kurzsichtigkeit nicht getroffen?
Weil die Schreckschusspistole nicht mehr funktioniert, habe er auf der Lloydstraße die restlichen Pfeile verschossen. Er habe den Mann nicht verletzen wollen, den er zweimal an einem Friseurgeschäft knapp verfehlt hatte. Er nannte in diesem Zusammenhang wieder seine Kurzsichtigkeit.
Die Schulsekretärin nahm sichtlich mitgenommen am Prozessauftakt teil. Sie ist als Nebenklägerin an dem Verfahren beteiligt. Richterin Geza Kasper fragte sie kurz vorher noch, ob sie tatsächlich an dem Verfahren teilnehmen wollen. Um nicht vor der stark gefüllten Pressebank sitzen zu müssen, platzierte Kasper das Opfer und ihre Anwältin an die Seite des Staatsanwalts.
An diesem ersten Prozesstag war auch von den anderen Opfern die Rede. Von Kindern, die mal stark verängstigten und panischen reagierten, mal ruhig mit ihren Smartphones hantierten. Von Eltern, die stundenlang voller Sorgen an der Schule warten mussten, weil die Lage unklar war, von mutigen Polizisten, die nachher selbst Betreuung brauchten. Und von Lehrern, die bis heute nicht in den Schuldienst zurückkehren konnten.
Bevor der Angeklagte am 19. Mai gegen 9 Uhr mit den Waffen die Schule betreten hatte, besuchte er noch seine Mutter. Um 4.30 Uhr frühstückten sie, um 5 Uhr musste die Mutter zur Arbeit. Die Eltern des Angeklagten waren am Donnerstag ebenfalls als Zeugen geladen. Beide machten als nahe Angehörige von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und äußerten sich nicht.